+
  • +
    Worms I, 2010/2011, Bildbasis Fotografien auf Leinwand, 107 x 121 cm, Roucka 62
    Worms I, 2010/2011, 107 x 121 cm
  • +
    Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt
    Worms III, 2018/2019, 107 x 121 cm
  • +
    Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005
    Worms II, 2010/2011, 106 x 120 cm
  • +
    Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61
    Mauer I, 2010, 110 x 55 cm
  • +
    Mauer II, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm, Roucka 60
    Mauer II, 2010, 110 x 55 cm
  • +
    Raschi-Luther Augenhöhe, 2011, Bildbasis Doppelblatt aus Freskobildnisse der Frührenaissance, 36 x 54 cm, Roucka 57 (Standort: Jüdisches Museum Worms)
    Raschi-Luther Augenhöhe, 2011, 36 x 54 cm
  • +
    Ludowika Huber, Wormser Gruppe, LU IMG 0059 JuedMus1 SRGB 420×297 Druck 2
    Kein Name soll verloren gehen 2010/2011, 60 x 120 cm
  • +
    2010, 14,5 x 10,5 cm, Roucka 40
    2010, 14,5 x 10,5 cm
  • +
    2010, 14,5 x 10,5 cm, Roucka 41
    2010, 14,5 x 10,5 cm
  • +
    2010, 10,5 x 14,5 cm, Roucka 42
    2010, 10,5 x 14,5 cm
  • +
    Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt
    2010, 11 x 29,5 cm
  • +
    Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt
    2010, 14,8 x 20,8 cm
  • +
    Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt
    2010, 21 x 29,5 cm
  • +
    Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt
    2010, 15 x 21 cm

Wormser Gruppe

Die Bilder und zahlreichen Fotografien, der Kalender Rheinhafen Worms spiegeln mein biografisches und stadtgeschichtliches Erkunden während meines Aufenthaltes im Elefantenhaus in Worms 2010/2011. Meine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Wormser Juden in der Zeit der faschistischen Gewaltherrschaft floss ein in das Bild Kein Name soll verloren gehen. Das Bild Raschi-Luther-Augenhöhe ist ein Plädoyer für den Dialog zwischen Menschen und ihren Religionen.

Zufall und Begegnung führten mich 2010 in das Elefantenhaus am Weckerlingplatz, an einen der schönsten Plätze in Worms. Der Gebäudekomplex wurde bereits 1689 urkundlich erwähnt und war während meines dortigen Aufenthaltes noch im Besitz des traditionsreichen Weinhandelshauses Valckenberg. Meine Wirkstatt Galerie Atelier Temporaer befand sich im Dunst geballter Religions- und Stadtgeschichte und war idealer Ausgangspunkt um Historisches, Heutiges, Biografisches zu erkunden und ideal für einen dialogischen Weg.

+
Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt

40 Jahre nach Verlassen der Stadt blickte ich wie eine Fremde auf die kontrastreichen Schnittstellen zwischen den Jahrhunderten, auf Zeugnisse chaotisch-organischer Gleichzeitigkeit. Wo Kelten und Römer, Bischofs- und Reichsstadt, Blüte und Niedergang ihre Spuren hinterließen, haben Großbauprojekte, Neubaugebiete und Eingemeindungen das Gesicht der Stadt verändert. Nie gesehen im Viertel meiner Kindheit, leuchten heute dort manche Hauswände in frischen Farben. Auch Zeichen des Krieges sind in der Stadt noch sichtbar. Auf Brandmauern lassen Umrisse zugemauerter Türen und Fenster ahnen, wie weit das Geld für Instandsetzungen reichte. Umgewandelte Gebäude erzählen vom Ende wirtschaftlicher Zweige, die Generationen relativen Wohlstand brachten. Mit dem Abriss ehemaliger Fabriken verschwanden Wahrzeichen, die in meiner Kindheit die Wahrnehmung leiteten und halfen, die Welt zu ordnen.

Anziehend wie einst ist der Weg hin zum Rhein, wo sich Weinbau und Wasserweg treffen, wo sich im Hafen Altes und Neues begegnen und nur wenige Menschen viele Güter lagern, bewegen. Gäbe es Worms ohne Rhein? Wer hätte sich niedergelassen ohne Fluss, ohne Anker- und Handelsplatz? Seit 1970 sind in Worms neue Stätten und vielfältige Formen kulturellen Lebens entstanden. Auch ehrenamtlich Engagierte haben über die Jahre die Stadt sehr bereichert und verändert.

Worms I

Für die Malgründe der Bilder Worms I und Worms II wählte ich meine Fotos, die als Collagen auf Leinwand gedruckt wurden. Die Auswahl der Fotos haben biografischen und stadtgeschichtlichen Bezug.

Worms I zeigt bekannte Gesichter aus der Wormser Geschichte wie den jüdischen Gelehrten Raschi, den Reformator Luther, Freiherr von Heyl stellvertretend für die Lederindustrie und ihre vergangene Blüte. Der Lederarbeiter steht für die Namenlosen, die mit schwerer Arbeit Reichtum schufen und beitrugen zum sozialen Engagement der Familie Heyl und zu deren künstlerischem Wirken, das noch heute im Museum Heylshof sichtbar ist. Das von Franz von Lenbach gemalte Portrait steht für die engen Beziehungen der Familie Heyl zu Münchner Malern, zu denen auch der Maler Wilhelm von Kaulbach gehörte.

Unter den steinernen Zeitzeugen ist ein Steinportrait von einer der drei Bethen aus der Nikolauskapelle im Dom. Die drei wurden der Legende nach während des Götterkultes als gütig und weise verehrt. Der aus dem 2. Jahrhundert überlieferte keltische Name der Siedlung ist Borbetomagus, so benannt nach Borbeth, einer der drei Frauen. Der Name bedeutet Der Göttin Borbets Land oder Siedlung in wasserreicher Gegend. Bischof Burchard, der den Dom im 11. Jahrhundert errichten ließ, erklärte das Verehren der Bethen und den verbreiteten Kult um sie als Sünde. Der Löwenkopf in Bildmitte stammt von einer Skulptur, die 2010 eine Treppe zum Dom säumte. Vor 900 Jahren war der Löwe ein Sinnbild zur Abwendung von Dämonen und Unheil. Der Affe ist eine Hommage für den verunglückten jungen Künstler, der ihn für das Café Affenhaus schuf, und er ist Würdigung und Dank für Albert Humann, der mit seiner Benennung des Cafés an alte Namen im jüdischen Viertel erinnerte. Zugleich ist der Affe ein Symbol für das menschliche Werden.

Biografisch bedeutsam ist das Foto meiner früh verstorbenen Mutter, daneben ein Gesuch meines Vorfahren Peter Baas aus Herrnsheim von 1742, der damit Bürger von Worms wurde. Er kannte als Winzer und Glöckner von Liebfrauen die Weingärten, wo Mönche vorbeziehenden Pilgern Liebfrauenmilch boten. In der Zeit meines Vorfahren floss der Rhein noch ganz nah an der Klostermauer vorbei. Dort fotografierte ich die steinerne Maria im Bild links oben.

+
Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt

Bildgrund Worms I

Worms II

Malgrund für Worms II ist die Fotocollage mit Ausschnitten von Dom und Stadtmauer, einer Tür im alten Hafen und einem Dokument aus dem Jüdischen Museum. Drachentöter Siegfried erinnert an die Nibelungen. Die Mauer einer ehemaligen Bäckerei meiner Kindheit hat biografischen Bezug. Sie zeigt Spuren der Backstube an den Seitenwänden der angrenzenden Häuser. Den Brunnen im Bild bauten 1988 Gemeindemitglieder der Versöhnungskirche Neuhausen in „meiner“ Straße, und sie verewigten das Gedicht Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyers aus dem Jahr 1882, das den endlosen Kreislauf des Wassers in den Brunnenschalen beschreibt. Das Mauerwerksornament links und rechts vom Brunnen ziert mein einstiges Elternhaus, als Kind habe ich es nicht bewusst wahrgenommen.

Worms III

Malgrund für Worms III ist eine Reproduktion vom Bild Worms I auf Leinwand. Das Übermalen in Weißtönen 2018/2019 war von anderer Art als die Auseinandersetzung mit meiner Geburtsstadt acht Jahre zuvor: Was bleibt, was verschwindet, was wird sichtbar in diesem Bild mit den persönlichen Bezügen?

+
Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt

Bildgrund Worms II

+
Ludowika Huber, Wormser Gruppe, LU IMG 0059 JuedMus1 SRGB 420×297 Druck 2

Kein Name soll verloren gehen

In meiner Schulzeit in Worms-Neuhausen sprach niemand über die Geschichte der Wormser Juden in der Zeit der faschistischen Gewaltherrschaft. Nun traf ich auf viele Stolpersteine, deren Verlegung Warmaisa, hebräisch für Worms, initiiert. Der Verein klärt auch über jüdische Kultur auf und erinnert an die Jüdische Gemeinde, die eine der bedeutendsten in Europa war. Ich erfuhr von der Gedenkstätte KZ Osthofen, die mit Ausstellungen und Veranstaltungen über Opfer, Täter und Widerstandsgruppen informiert. Bewegt hat mich der Besuch bei Anneliese Schlösser, die mit ihrem Mann viele Jahre die Namen und Schicksale der Wormser jüdischen Opfer recherchierte.

Das Unbegreifliche der dokumentierten Schicksale, Erinnertes und in Kindheit und Jugend Erlebtes wühlten mich auf, bewegten mich zum Bild Kein Name soll verloren gehen. In meinen frühen Jahren herrschte Verdrängung vor, Vertuschung, Verschweigen. Viele entnazifizierte Nazis machten weiter Karriere, begründeten nahtlos neue Laufbahnen, Richter richteten, die schon unter den Nazis Angeklagte verurteilten. Überall gab es Menschen, die das Hitlerregime nicht nur widerstandslos mittrugen, sondern aktiv verantworteten, ohne Unrechtsbewusstsein, ohne Reue. Nur wenigen Überlebenden des Holocausts können wir noch zuhören, umso wichtiger wird das Wahrnehmen der einzelnen Opfer, die Namen, ihre Gesichter, ihr Leben, und dass wir selbst davon erzählen.

Der Buchenwald-Schwur hat sich nicht erfüllt

Gedenken an die Ermordeten sehe ich mit Verantwortung für das Nie wieder! verbunden. Die Ziele des Buchenwald-Schwurs von 1945 sind nicht erfüllt: Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel … In Buchenwald wurden über 50.000 Menschen ermordet, auch Wormser Juden. Jahrzehnte danach ist Nazismus und Antisemitismus nicht tot. Kriege haben nicht aufgehört – weltweit. Neobraune sitzen in Parlamenten, hetzen mit völkischen Worten gegen Flüchtlinge, Juden, Muslime. Im Gefolge gibt es Menschen, die Waffen und Sprengstoff nicht nur horten. Zeitenwende wird propagiert, alte Feindbilder neu belebt, Militarisierung ist im Gang, auch in den Köpfen – Aufrüstung wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr.

Wenn sich in der Nachkriegszeit Nazi-Verbrecher vor Gericht verantworten mussten, war es Menschen wie dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zu verdanken. Auch Protestbewegungen haben etwas angestoßen, doch sicher geglaubte demokratische Errungenschaften sind fragil. Ich stimme James Baldwin zu: Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit, sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte in uns. Wir sind unsere Geschichte. Was bedeutet heute Nie wieder Krieg? Es sollte bedeuten Konversion statt Aufrüstung, Entmilitarisierung statt atomaren Schutzschirms, Diplomatie, friedliche Konfliktlösung statt zerstörerischer Kriege.

Historischer Malgrund und Umsetzung

Meine Absicht war, im Bildgrund von Kein Name soll verloren gehen die frühe Geschichte der Jüdischen Gemeinde aufzugreifen. Zunächst dachte ich an den historischen Stadtplan des Jüdischen Viertels. Im Raschi-Haus hörte ich, dass die vom Stadtarchivar Heinrich Boos um 1885 in blauen Mappen und Klappschachteln geordneten Akten umgelagert würden. Sie erschienen für das Bewahren und Erhalten wertvoller Dokumente nicht mehr sicher genug. Ich erwarb einige Schachteln und Mappen, selbst schon historische Objekte. Darunter befand sich eine Mappe mit der Aufschrift Judenschaft. Aus dieser fielen beim Vorbereiten einer temporären NachDenk-Installation sechs leere Aktendeckel (Titel: Schelmenhändel 1626 oder Fund eines toten Kindes auf dem Judenfriedhof 1584 und andere, siehe Fotos). Die zugefallenen Aktendeckel, die einst Zeugnisse jüdischen Lebens aus dem 15. bis 18. Jahrhundert bewahrten, wurden zu meiner Bildbasis.

+
Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt
+
Worms III, 2018/2019, Bildbasis Leinwanddruck Worms I, 107 x 121 cm, PureFineArt
+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005
+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005
+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005
+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005

Fotobearbeitung: Janusz Szymanski

+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005

Die Namen der jüdischen Opfer aus Worms, Zitate und Gedichte und einzelne Gesichter stammen aus dem Buch Keiner blieb verschont von Annelore und Karl Schlösser, aus der Dokumentation über die Wormser Stolpersteine Vergiss uns nicht von Roland Graser, Fritz Reuter und Ulrike Schäfer. Hinweise fand ich auch in einigen Aufsätzen (Worms-Verlag). Die übliche Praxis des Übermalens war nicht geeignet, denn alle mit der Hand geschriebenen Namen sollten sichtbar bleiben.

Bei Besuchen im Jüdischen Friedhof Heiliger Sand wünschte ich mir im friedlichen Friedhofgewirr, wie Martin Buber ihn im Zwiegespräch nannte, ein Band von diesem besonderen Ort jüdischer Vergangenheit zu den Opfern des Holocaust. Sie wurden entwürdigt und ermordet in Auschwitz, Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen, Theresienstadt und in anderen Konzentrationslagern. Keiner sprach das Kaddesh, kein Stein lag auf einem Grab. In meinem Bild finden sich keine Grabsteine, Andeutungen nur und Tränen, Tränen über die Auslöschung, über das Unbegreifliche. Die knieende Geste von Gunter Demnig steht für die Wormserinnen und Wormser, die das Gedenken an die Einzelnen und ihren Lebensort wachhalten.

Seit November 2011 befinden sich das Bild Kein Name soll verloren gehen im Besitz des Jüdischen Museums Worms. Ebenso das Bild Raschi-Luther-Augenhöhe, mein Plädoyer für den interreligiösen Dialog.

Raschi-Luther Augenhöhe

Warum den französischen Gelehrten und Rabbiner Schlomo ben Jizchak, genannt Raschi (1040–1105) und den Mönch und Reformator Martin Luther (1483–1546) Seite an Seite darstellen? Beide Namen sind mit Worms eng verbunden, Jüdisches Worms und Reformationsgeschichte sind präsent. Der Versuch mich beiden zu nähern galt nicht ihrem Glauben, nicht theologischen Quellen. Luthers Antijudaismus hätte für mich eine Darstellung Seite an Seite ausgeschlossen. Meine Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf die Kunst, die Raschi und Luther gleichermaßen meisterlich beherrschten: verständlich Übersetzen und Vermitteln. Die Augenhöhe ist mein Plädoyer für den Dialog zwischen Menschen und ihren Religionen.

Der Standort der Galerie Atelier Temporaer war einer der Impulse für dieses Plädoyer. Der Weckerlingplatz liegt fünf Gehminuten vom jüdischen Friedhof Heiliger Sand entfernt und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den ältesten Kirchen von Worms. Meinen Tag wurde begleitet vom Geläut der Magnuskirche, wo man schon um 1520 in Luthers Sinne die Messe hielt. Der mittelalterliche Bau gegenüber, das Andreasstift, wurde 1016 schon erwähnt, seit 1930 befindet sich dort das Wormser Stadtmuseum. Gesäumt wird der Platz auch von der einstigen 1945 wiederaufgebauten Baptistenkirche. Heute lockt dort ein Gastronom die Gäste in seinen „Gourmet-Tempel“. In Sichtweite thront der Dom, einen Katzensprung entfernt steht die Dreifaltigkeitskirche. Wie schlicht war St. Amandus, die Kirche im Stadtteil meiner Kindheit, 1952 in wenigen Wochen von Freiwilligen hochgezogen. Nun wohnte ich inmitten vergangener sakraler Macht sozusagen mit Luther auf Du-und-Du. Wenig entfernt weigerte er sich 1521 seine Schriften vor dem Reichstag zu widerrufen. 10 Tage war er in Worms, folgenreich für die Kirchengeschichte. Wendepunkte.

Über den Gelehrten Raschi hörte ich in meiner Schulzeit nichts. Erst 40 Jahre später erfuhr ich bei meinen Besuchen im vormaligen Jüdischen Viertel von seiner großen Bedeutung. Er studierte ab 1060 in den Lehrhäusern von Mainz, Heidelberg und Worms. Danach gründete er in Troyes ein eigenes Lehrhaus. Schon zu Lebzeiten war Raschi als Bibelkommentator und Gelehrter hoch angesehen. Nach ihm ist heute in Worms das Raschi-Haus benannt, wo sich das Jüdische Museum und das Stadtarchiv befinden. Teile des Gebäudes sind aus dem 14. Jahrhundert. Dort befand sich eine mittelalterliche Talmudschule, eine der bedeutendsten in Deutschland. Im Synagogen-Anbau Raschi-Jeschiwa erinnert ein thronähnlicher Stuhl an Raschis Bedeutung als Lehrer und an den Geist seiner Lehren. Im Synagogenhof steht eine Raschi-Statue und in der nahen Stadtmauer trägt ein dreiteiliges Tor seinen Namen.

Was haben Raschi und Luther gemeinsam?

Raschi und Luther waren hochgebildet, dazu ein paar Aspekte: Beide beherrschten mehrere Sprachen, strebten nach verständlichem und bildhaftem Ausdruck und guter Interpretation. Obwohl 380 Jahre dazwischen lagen, lebten beide in einer von Mündlichkeit geprägten Gesellschaft. Die Schrift befand sich auch am Ende des Mittelalters noch in den Händen einer Minderheit, vor allem in geistlichen Händen. Die komplexen Wirkungen des Schrifterwerbs auf Sprachbewusstsein und Erkenntnisfähigkeit, auf die Fähigkeit zur Bildung von Kategorien, auf Generalisierungs- und Abstraktionsvermögen, sind heute bekannt. Im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit konnten sich Luther wie Raschi „frei bewegen“.

Luther löste sich bei den Übersetzungen vom lateinisch-griechischen Wortlaut und Satzbau, er übersetzte sprechsprachlich und hörbezogen. Überall und von jedem sollte die Bibel verstanden werden, von Bauern, Knechten, Mägden, vom Bürgertum der Städte. Er verwendete weit verbreitete Worte, goss Lehren in Sprachbilder, erfand Ausdrücke, erschuf noch heute verwendete Redewendungen wie Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Stein des Anstoßes, Lückenbüßer, Lockvogel. Das sprach- und stilbildende Wirken Luthers und sein poetisches Talent trugen zum besseren Verstehen zwischen Dialekten bei, zur Alphabetisierung durch die Verbreitung der Bibel, die er immer wieder verbesserte. Als er 1546 starb, waren 430 verschiedene Ausgaben erschienen.

Auch in Raschis Wirken ging es um größere Verständlichkeit. Er besuchte Märkte, ging auf Messen, wo er auf Händler und Kaufleute aus vielen Ländern traf. Er stand in Verbindung zu den Menschen auf dem Land, hatte einen scharfen Blick für das praktische Leben, Nähe zum einfachen Volk, so Arthur Cohn (Bern 1905), der auch Raschis dichterisches Talent lobte: in den Synagogalen Poesien sei nicht nur der Geist, auch das Gemüt sei angesprochen. Der Talmud sei ein Labyrinth, für das man einen Ariadne-Faden brauche und damit habe Raschi das jüdische Volk beschenkt, durch seine Erklärungen habe er den Talmud Abermillionen von Juden zugänglich gemacht. Raschi kommentierte 24 Bücher der hebräischen Bibel, schrieb zahlreiche wissenschaftliche Schriften und Gutachten. Er änderte wiederholt bedeutsam seine Kommentare zu den dreißig Traktaten des Talmuds. Noch heute werden sie gedruckt und gelesen.

Malgrund und Umsetzung

Malgrund für das Raschi-Luther-Bild ist eine Text-Doppelseite aus Hans Misars Buch Freskobildnisse der Frührenaissance (1941). Die Wirkungen des Wandels in der Frührenaissance auf Bewusstsein und Glauben der Menschen, ist im Text zur „Fresko“-Werkgruppe ausgeführt. Die Portraits von Raschi und Luther, die Auszüge von Luthers Tischreden und von Raschis Kommentar fand ich im Internet. Übermalung: Acryl blanc, Tinte für den Text, die Grün-Blautöne entstanden durch Wechselwirkungen der Materialien. Beim handschriftlichen Text handelt es sich um ein Zitat aus Die Zukunft einer Illusion (1927) von Sigmund Freud:

Es ist gewiss ein unsinniges Beginnen, die Religion gewaltsam und mit einem Schlage aufheben zu wollen. Vor allem darum, weil es aussichtslos ist. Der Gläubige lässt sich seinen Glauben nicht entreißen, nicht durch Argumente und nicht durch Verbote. Gelänge es aber bei einigen, so wäre es eine Grausamkeit. Wer durch Dezennien Schlafmittel genommen hat, kann natürlich nicht schlafen, wenn man ihm das Mittel entzieht …

Freud geht es in diesem Buch um den Ursprung der Religionen, er fragt, aus welchem Bedürfnis heraus in allen Kulturen religiöse Vorstellungen entstanden sind. Mein Interesse an Religion ist ebenfalls menschheitsgeschichtlich: Warum glaubt der Mensch? Warum wurden religiöse Rituale erfunden? Dienen Weltreligionen der „Zähmung der Massen“ wie es Elias Canetti in seinem Buch Masse und Macht erwähnt?

Warum Dialog auf Augenhöhe?

Mein Plädoyer für den Dialog auf Augenhöhe speist sich aus meiner Hoffnung, dass der moralisch-ethische Anspruch der jeweiligen Kirchen und ihre Gebote helfen können, Konflikte gewaltfrei zu lösen und die Welt friedlicher zu machen. Um einen solchen Dialog noch viel stärker anzustoßen als dies heute geschieht, braucht es eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den jeweils eigenen Blutspuren in der Vergangenheit und Gegenwart. Augenhöhe sehe ich als Metapher für Achtung, für Anerkennung der weltanschaulichen und religiösen Unterschiede auf der kooperativen Suche nach gemeinsamen Wegen.

In der Stadt Worms, in deren Geschichte sich auch religiöse Konflikte spiegeln, waren die Religionsgespräche 2013 und 2016 ein Anfang für einen respektvollen Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen. 2013 fanden sie unter dem Motto Dulden und Verstehen statt – 1100 Menschen nahmen teil. Gewissensfreiheit in der Einen Welt war das Thema 2016. Sie sollten fortgeführt werden.

Das Tötungstabu in den Blick rücken

Angesichts der Lage in der Welt sehe ich die Auseinandersetzung mit dem Tötungsverbot als dringlich an. Wie ist eine Abkehr von Gewalt und dem ihr zugrundeliegenden Denken, Glauben, Urteilen, Sprechen zu erreichen, wie eine Abkehr von der Bereitschaft zu töten? Warum ist das Tabu des Tötens bis heute nicht weltumspannend friedensstiftend? Wie vereinbaren Gläubige das Töten und die Teilnahme an Kriegen mit ihrem Glauben, ihrem Gewissen? Warum zeigt das fünfte Gebot kaum Wirkung – anders gefragt: was hindert Gläubige daran, aus vollem Herzen Pazifisten zu sein?

Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist verankert werden. Zur Umsetzung dieser Leitidee der UNESCOPräambel von 1945 sollten die internationalen Gewerkschaften und die weltumspannenden Kirchen mit den Einrichtungen der Vereinten Nationen enger zusammenwirken. Das Ziel einer friedlichen Gesellschaft erscheint mir nur dann aussichtsvoll, wenn all jene Kräfte eng kooperieren, die gegen rücksichtslosen Krieg um Vormacht in der Welt, ihren Weg der Gewaltfreiheit gehen.

Fotoerkundungen – Hafenkalender

Das Fotografieren war einer der Wege, die Wormser Stadtlandschaft zu erkunden: Neues, Altbekanntes, Besonderheiten, auch Vergessenes wiederzuentdecken. Dass Rhein und Weinanbau und die Rheinhäfen bei den Recherchen größeren Platz einnahmen, ist den Sonntagsausflügen meiner Kindheit geschuldet. Ich erinnerte mich, wie gerne ich Schiffen zuwinkte und an den Duft des damals für mich so riesigen Flusses, an die sanfte Brise, die diesen Geruch an meine Nase trug. Auf den Fluss zu schauen, am Ufer zu sitzen, das Wasser, die Wellen, das Strömen zu beobachten war mit einem leicht erhabenen Gefühl verbunden, wie ein Ausblick durch ein Fenster in weite Fernen.

+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005
+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005
+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005

Fotos von Rhein, Häfen und Umfeld im Kalender Rheinhafen Worms

+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005

Verantwortliche in und um die Wormser Häfen öffneten mir die Türen in die Innenwelt des Handelshafens, eingeschlossen den Blick von oben. Vom Boot der Wasserwacht, vom Führerhaus der Hafenbahn aus ergab sich eine ganz neue Sicht auf den Rhein und seine Ufer wie auf die angrenzenden Fabriken und Anrainer. Dank Felicitas Steifensand, die mich und meine Vorhaben auf so vielfältige Weise unterstützte, konnte ich im rheinnahen Liebfrauenareal vieles entdecken.

In der Nähe zum Winterhafen wurde 1912 der Alte Schlachthof erbaut. Der Jugendstilkomplex zeigte Spuren von Vergehen und Verfall, nur die Metzgerei und Autowerkstatt wurden noch betrieben. Beim Fotografieren in der großen stillgelegten Markthalle war das einstige Treiben noch spürbar, Gebäude und Hallen waren vom Zauber erfüllt, der von Jugendstilbauten ausgehen kann.

Das Geschehen am Wasser, Gerüche, Geräusche, Bewegung, Farben, Formen, die Lagerung waren eine besondere ästhetische Erfahrung. Meine Fotos von Rhein, Häfen und Umfeld finden sich im Kalender Rheinhafen Worms, initiiert vom ehemaligen Rhenania-Vorstand Heinz Schollmeier, typografisch gestaltet von Rudolf Paulus Gorbach mit Texten von Astrid Baldauf, Worms Verlag.

+
Worms II, 2010 / 2011, Bildbasis Fotografien auf Lein-wand, 106 x 120 cm, Mehrl P 607 0005
+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61
+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61

Fotoerkundungen im Alten Schlachthof und in der Markthalle

+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61
+
Mauer II, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm, Roucka 60

Mauern

An einigen Wormser Mauern zeigt sich, was andernorts schon lange übermörtelt ist. Mauern erzählen Geschichten. Zwei Mauer-Fotocollagen ergänzte ich in der Galerie Atelier Temporaer mit dem Gedicht von Victor Hugo über das Gehen durch Ruinen in der Nacht: Es war die Stunde, wo die Fassaden alter, verlassener Gebäude nicht mehr Fassaden sind, sondern Gesichter … So erlebte ich meinen eigenen nächtlichen Weg vom Elefantenhaus vorbei an alten Mauern über Kopfsteinpflaster hin zum geschichtsträchtigen Werger-Schlösschen an der Stadtmauer. Dank Adele Weirich wohnte ich dort in den ersten Wochen unweit jener Stelle, an der Kaiser Friedrich II. 1235 seinen Sohn König Heinrich VII. einsperrte, und dessen lebenslange Kerkerhaft begann.

In diesem Teil von Worms zogen mich auch die Keller an, von denen mir meine Mutter erzählte. Wie so viele floh sie im Krieg in diese riesigen Keller unter der Stadt. Ließe sich dort im fensterlosen Schutzraum, ein NachdenkMuseum installieren, vielleicht unter dem jüdischen Friedhof Heiliger Sand?

Stadtgeschichte(n) sind geschichtet, was nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Man kann in ihnen wie in einem Buch blättern und lesen. Noch besser ist es, wen man … im Dialog ein Fenster aufstößt., schrieb Kulturkoordinator Volker Gallé unter anderem in mein Gästebuch. In den ersten 18 Lebensjahren blieb mir vieles von diesen Schichten verborgen, die ich 40 Jahre später erst entdeckte. Trüben Gewohnheit, Alltag unsere Wahrnehmung? Haben mein Fremdgewordensein den Blick für das Besondere, Typische geschärft, über das Volker Gallé bei einer Ausstellungseröffnung sprach:

Im hinteren Raum des Ateliergeschosses … werden vor allem Wormser Denkmalszenen festgehalten: Typisch für die immer wieder zerstörte, sich verändernde Stadt und ihr kleinbürgerliches Milieu sind die An- und Umbauten, die Resteverwendung, die Überbauung, der Stilmix, die Viel- und Kleingliedrigkeit, der Pragmatismus – ein bisher noch wenig entdeckter und zu Konzepten umgearbeiteter Fundus für die Stadtentwicklung, sowohl in denkmalpflegerischer und städtebaulicher Hinsicht als auch was die Bürgerbeteiligung angeht. Volker Gallé

+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61
+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61
+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61
+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61
+
Mauer I, 2010, Fotocollage auf Leinwand, 110 x 55 cm (Übermalung 2013, ohne Foto) Roucka 61