Projekt Zuhören

Zuhören ist elementar für das Gelingen von Kommunikation, für Lernen und Verstehen, für das Lösen von Konflikten. Zuhören prägt die Art wie wir miteinander umgehen. Mangelnde Zuhörfähigkeit ist eine der Ursachen für Kontroversen und Spannungen im privaten wie beruflichen Bereich und in politischen Auseinandersetzungen. Nachfragen und bewusstes Zuhören können helfen, Bedürfnisse und Perspektiven anderer zu verstehen. Als ein Gesundheitsfaktor ist die Qualität unserer akustischen Umwelt ebenso bedeutsam wie achtsames Zuhören im Arzt-Patienten-Gespräch. Wie Lesen, Schreiben und Rechnen sollte das Zuhören als eine kulturelle Grundfertigkeit gelehrt und gelernt werden.

1997 initiierte ich das Projekt Zuhören und fand Verbündete in verschiedenen Bereichen wie Schule und Wissenschaft, Musik, Kunst und Rundfunk. In der Zusammenarbeit von Vielen entstanden Förderansätze für die Zuhörfähigkeit von Kindern und Erwachsenen.

Heute sehe ich das Thema Zuhören für unser Miteinander, für die Gesellschaft als genauso aktuell.

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Dieser persönliche Bericht handelt von meinen Versuchen, die Bedeutung des Zuhörens ins Gespräch zu bringen. Wenn es gelang Projekte anzustoßen, die die Zuhörfähigkeit von Kindern und Erwachsenen fördern, dann nur deshalb, weil es viele waren, die mitdachten, die sich engagierten und bereit waren neue Wege für die kulturelle Grundfertigkeit Zuhören zu gehen. Einige Namen sind genannt, viele wären zu nennen, Menschen, ohne die vieles nicht entstanden wäre. Ich danke allen, auch den Ungenannten und möchte davon berichten, was mich in diesen Jahren so intensiv beschäftigte und bis heute bewegt.

Mein Weg über Schriftlichkeit und Mündlichkeit zum Projekt Zuhören

1992 entschloss ich mich Psycholinguistik zu studieren. Ich wollte verstehen, was Sprache mit uns macht und wir mit ihr, wie Sprechen, Denken, Fühlen, Handeln miteinander in Beziehung stehen. Wie konstruieren wir Wirklichkeit? Was bewirken Worte?

Schon in meinen ersten 17 Berufsjahren bei der Post und im Baugewerbe gab es viele Herausforderungen für sprachliches Handeln. Ich war Jugendvertreterin, später langjähriges Betriebsratsmitglied und mit verschiedenen gewerkschaftlichen Funktionen betraut. Verhandeln, das auf Lösung von Konflikten zielt, setzt die Wahrnehmung des Gegenübers und aufmerksames Zuhören voraus. Achtsames Hinhören kann auch helfen jene Streitigkeiten zu vermeiden, die auf Missverständnissen beruhen.

In der zweiten Hälfte des Studiums nahmen Mündlichkeit und Schriftlichkeit größeren Raum ein. Erlernen der Schrift hat weitreichende Auswirkungen auf Denken und Sprachbewusstheit und auf die Wahrnehmung. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, am beruflichen und privaten Alltag setzt schriftliche und mündliche Kommunikationsfähigkeiten voraus. 1996 initiierte ich ein folgenreiches Symposium zum Schriftspracherwerb, bei dem sich Teilnehmende aus der pädagogischen Praxis, aus der Neurologie und anderen Wissenschaftsdisziplinen von verschiedenen Blickwinkeln aus begegneten.

Primat der Schriftlichkeit

Mitte der 1990er Jahre traf ich auf unterschiedliche pädagogische Vorstellungen vom Lesen- und Schreibenlernen. Außerdem stellte ich fest, dass in allen Schularten die Förderung mündlicher Sprachfertigkeit ein Schattendasein führt. Erst in höheren Klassen wird das Halten eines Referats geübt. Hören und Zuhören wird nur im Musikunterricht als pädagogische Aufgabe begriffen und sonst als gegeben vorausgesetzt. Das Schriftsprachliche dominiert, schriftliche Noten zählen gegenüber mündlichen in vielen Fächern doppelt.

Auch in Programmen der Erwachsenenbildung oder der betrieblichen Fortbildung fand ich weitestgehend nur Lernangebote für das Sprechen und das Vortragen. In den Programmen, die ich einsehen konnte, erschien Zuhören, wenn überhaupt, nur in Zusammenhang mit Interkultureller Kommunikation.

Der Primat des Schriftlichen rührt auch von den grammatischen Kategorien her, die im Unterricht gelehrt werden. Analyse- und Beschreibungskriterien der Sprache sind durch Analyse von Texten entstanden, sie sind schriftzentriert. Gestaltungsmerkmale gesprochener Sprache und mündlicher Rede folgen dagegen eigenständigen Regeln. Ein Unterricht, der diese Unterschiede einbezieht, würde die Kommunikationsfähigkeit der Lernenden schulen.

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Buchcover – Einblick in den Schriftspracherwerb

Initialzündung GanzOhr 1997

Vom Hessischen Rundfunk eingeladen, nahm ich 1997 während der documenta10 vier Tage am Symposium GanzOhr in Kassel teil. Durch Gespräche, Workshops, Vorträge aus verschiedensten Sparten der Wissenschaft, Kunst und Musik, der Wirtschaft und Politik wurde mir die enorme Tragweite des Themas Zuhören bewusst. Dass Zuhören als Lerngegenstand keine oder wenig Beachtung findet, wusste ich, aber das große Ausmaß der gesellschaftlichen Bedeutung vor Augen, kam es zu einer Initialzündung.

Mein Ziel war, Zuhören als kulturelle Grundfertigkeit, als wesentliche Voraussetzung des Miteinanders öffentlichkeitswirksam zu thematisieren. In Briefen und Gesprächen suchte ich Verbündete für mein Projekt Zuhören. Der Austausch mit Volker Bernius vom Hessischen Rundfunk und dem Journalisten Karl Otto Saur sowie die Unterstützung von Gerd Kegel, bei dem ich studierte, waren dabei sehr wichtig.

Erotische Geschichten – ein Anfang im Februar 1998

Wer könnte besser zeigen, was Zuhören bedeutet, als ein Geschichtenerzähler, der seine Kunst versteht? In der ersten öffentlichen Zuhör-Veranstaltung an der Universität München beflügelte der Erzählkünstler Saddek Kebir aus Berlin die Phantasie der Anwesenden mit Erotischen Geschichten. Über den Sinn der Gründung einer Stiftung Zuhören sprach Renate Ehlers vom Hessischen Rundfunk aus Frankfurt. Der Typograf und Autor Rudolf Paulus Gorbach unterstützte das Vorhaben und half durch die Gestaltung dieser Einladung wie viele der folgenden, die Sache des Zuhörens zu verbreiten.

Danach bahnte ein Workshop mit 25 MultiplikatorInnen zum Thema Zuhören die Zusammenarbeit zwischen praxisorientierten Institutionen und Wissenschaft. Die Teilnahme von Joachim Kahlert, Lehrstuhl Grundschulpädagogik und -didaktik, war für den weiteren Verlauf ein Glücksfall-

Lust am Wissen durch Hören will nahebringen, dass Wissen kein abstrakter, sondern ein höchst vergnüglicher Vorgang ist. August Everding

Auf dem Bildungskongress des Verbandes der Bayerischen Wirtschaft traf ich 1998 in August Everding (1928–1999) auf einen großartigen Fürsprecher für das Zuhören. Schon lange bewunderte ich ihn für seinen unermüdlichen Einsatz für die Kunst und seine Ideen wie das Projekt Theater und Schule.  Ich bat ihn um seine Schirmherrschaft für das Projekt Zuhören, seine Zusage erreichte mich Ende 1998 über Regine Koch, Leiterin von Theater und Schule. August Everding starb im Januar 1999, ich war sehr traurig, wie gerne hätte ich seine wichtige Rede auf dem Bildungskongress publiziert.

Bilder sollten sprechen über das Hören und Zuhören – so die Idee für die Wanderausstellung Mit den Augen hören. Freude des Hörens sollte zum Ausdruck kommen, auch Reizüberflutung und andere Themenbereiche wollte ich zusammen mit meinem Freund Josef Mehrl, Redakteur und Fotograf, und mit dem Fotografen Volker Derlath aufgreifen. Der Lehrer und Fotograf Bruno Mooser (1925–2009) hat in vielen seiner Fotografien auf beeindruckende Weise sichtbar gemacht, dass Zuhören nicht nur eine Sache der Ohren ist, sondern ein Zusammenspiel der Sinne, der ganze Körper scheint beteiligt. Für Aufsehen sorgte 1956 sein Foto eines Jungen, der dank eines Audiometers zum ersten Mal etwas hörte. Der Nachlass von Bruno Mooser befindet sich im Stadtarchiv Straubing.

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Einladung Erotische Geschichten

Erotische Geschichten 17.2.1998

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Vorleserunde Südspanien 1961, Stadtarchiv Straubing, Foto Bruno Mooser

Erstes Hörerlebnis 1956, Stadtarchiv Straubing
Vorleserunde Südspanien 1961, Stadtarchiv Straubing
Fotos Bruno Mooser

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Erstes Hörerlebnis 1956, Stadtarchiv Straubing Foto Bruno Mooser
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RPG ZuHören drei Vorträge 8.12.1998

Der Kreis wird größer

Eine dreiteilige Vortragsreihe zu verschiedenen Aspekten des Zuhörens koordinierte ich im Wintersemester 1998/99 mit drei Instituten der Universität München, dem Münchner Kulturreferat und dem Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung. Studierende, MultiplikatorInnen und Interessierte kamen. Zur breiten Resonanz beigetragen haben auch der Prorektor der Universität Lutz von Rosenstiel und der Münchner Kulturreferent Julian Nida-Rümelin, die die Reihe eröffneten. Die damals beginnende Zusammenarbeit mit dem Münchner Kulturreferat verdanke ich meinem Freund Christoph Schwarz.

Förderantrag zur Jahrtausendwende

Nachdem ich von sogenannten Milleniumsmitteln erfuhr, skizzierte ich Ende 1998 im Förderantrag ans Bayerische Wissenschaftsministerium das Projekt Zuhören. Er enthielt Überlegungen zu einem Forschungsverbund, Praxisprojekte wie Zukunftswerkstatt, Hörclubs an Schulen, den Ideen- und Kreativwettbewerb EarSinn, Radioprojekte für junge funktionale Analphabeten, öffentlichkeitswirksame Tagungen zum Thema Zuhören – Lernen – Verstehen, eine Tagungsreihe Zeit und Zuhören.

Mit offenen Ohren ins dritte Jahrtausend – Start am Starnberger See 1999

Das Ministerium förderte eine Tagung, die Joachim Kahlert und ich mit den Kooperationspartnern Axel Schwanebeck von der Evangelischen Akademie und Michael Schröder von der Akademie für Politische Bildung in Tutzing realisierten. Bis 2007 folgten weitere Tagungen am Starnberger See mit TeilnehmerInnen weit über München hinaus:

2007

Zeit und Zuhören – 2007

Die Idee zur Tagung am Starnberger See mit dem Thema Zeit und Zuhören ging auf Gespräche im Jahre 1998 mit einem verstorbenen Freund Lothar Pinkall (1928–2001) von der IG Metall zurück. Mein Förderantrag für eine Reihe, für die Julian Nida-Rümelin und Johannes Goebel, damals Leiter des ZKM Karlsruhe, schon zugesagt hatten, wurde nicht bewilligt. Erst neun Jahre später kam nach meinem Besuch beim Zeitforscher Karl-Heinz Geißler (1944–2022) die Umsetzung in Gang:

Zukunftswerkstatt und Projektentwicklung – März 1999

Die Skizzierung des Projekts Zuhören im erwähnten Antrag war für die nächsten Schritte wegweisend. Schon im März 1999 führten wir dank der Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung die Zukunftswerkstatt Akustisch gestaltete Schule – für eine neue Qualität des Aufmerkens und Zuhörens durch. Im Mittelpunkt standen Zuhören und seine Förderung sowie die akustische Lernumgebung – im schulischen Umfeld ist sie nicht selten eine Lärmumgebung mit entsprechenden Folgen auf die psychische Verfassung der Beteiligten.

Die Methode der Zukunftswerkstatt war mit ihren drei Phasen ideal für das Finden neuer Wege in unserem Modellvorhaben. Moderiert hat mein Freund Norbert R. Müllert (1939–2021), der mit Robert Jungk (1913–1994) diese Problemlösemethode entwickelte und unzählige Werkstätten durchgeführt hatte. Nach der Kritikphase ging es in der Phantasiephase um die Frage, wie Schule unter dem Aspekt der Zuhörförderung und der akustischen Gestaltung aussehen könnte. Viele Vorschläge aus der anschließenden Realisierungsphase flossen in unser Handlungsprojekt GanzOhrSein (Graues Material: Norbert R. Müllert: Akustisch gestaltete Schule – für eine neue Qualität des Aufmerkens und Zuhörens, März 1999).

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Zuhören als Gewaltprävention – Oktober 2000

Die Gespräche mit Claudia Munz von der Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung und ihr Beitrag im Buch Zuhören – Lernen – Verstehen, das ich mit Eva Odersky 2000 herausgab, war ein Anstoß für die Tagung Zuhören als Gewaltprävention. Neue Wege bei Gewalt in der Schule? Kann man Gewalt vorbeugen durch Förderung der Bereitschaft und Fähigkeit zum Zuhören? Welche Möglichkeiten bietet die Schule für Gewaltprävention, welche Grenzen gibt es? Was kann Bildungs- und Sozialpolitik zum Klima der Achtsamkeit und Anerkennung beitragen? Das Interesse an den Fragen war so enorm, dass 200 Leute aus Platzgründen nicht an der Tagung in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung teilnehmen konnten. Kommende Tagungen fanden dank Reinhard Wittmann im großen Saal des Münchner Literaturhauses statt.

2018

GanzOhrSein – 2000 bis 2003

Joachim Kahlert holte mich zur Projektentwicklung an seinen Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik. Im Sommer 1999 hatten wir ein Hauptseminar Zuhören fördern, Konzepte, Forschungsansätze, Projekte und formulierten Anträge zur Finanzierung eines Modellprojektes an verschiedene Träger. 2000 wurde schließlich das dreijährige Projekt GanzOhrSein von der Bund-Länder-Kommission im Rahmen des Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter und vom Land Bayern gefördert.

An der Umsetzung von GanzOhrSein waren 276 SchülerInnen, 175 Kinder aus Hörclubs und 14 Lehrerinnen aus 10 Grundschulen, zwei Hauptschulen und zwei Gymnasien beteiligt. Die Akzeptanz und Wirkungen der Angebote für die Unterrichtspraxis und die werkstattorientierte Lehrerfortbildung wurden untersucht mit Fragebögen, Leitfadeninterviews, Unterrichtstagebuch, teilnehmende Beobachtungen. Im Projektverlauf kam es durch die Teilnahme verschiedener öffentlicher und privater Kultur- und Bildungseinrichtungen und durch unsere Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Bildung zu neuen Netzwerken.

Gut fand ich, dass auch das von uns konzipierte Vorhaben Achtsamkeit und Anerkennung zeitgleich von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finanziert und von Richard Sigel umgesetzt werden konnte. Aktuell wie damals sind die entstandenen Materialen: Sie enthalten Anregungen zur Förderung der Zuhörfähigkeit, Beiträge zur Konfliktmoderation und Streitschlichtung, zu gekonntem Feedback und andere hilfreiche Bausteine mehr. Die neue Auflage enthält außerdem Anregungen für einen sprachsensiblen Unterricht und für den Umgang mit Kindern, die Flucht und Vertreibung erlebt haben.

Auf was du achtest, das wächst. Johann Wolfgang von Goethe

Mit Beginn von GanzOhrSein erweiterte sich unser Team um Mechthild Hagen (1966–2012) und Christiane Hemmer-Schanze. Durch unsere unterschiedlichen Kompetenzen startete nicht nur eine fruchtbare Zusammenarbeit, es war auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Wir entwickelten und evaluierten Unterrichts- und Fortbildungsmodule zur Förderung des Zuhörfähigkeit und erprobten Ansätze zur Optimierung der Schulgestaltung. Dabei ging es ebenso um die Sensibilisierung der Wahrnehmung, um Achtsamkeit und das Arrangieren von Hörerfahrungen wie auch um die Verbesserung der akustischen Bedingungen in der Schule. Für die Schulung der Sinne nutzten wir traditionelle wie neue Medien.

Projektbegleitend wurde untersucht, ob sich durch Förderung des Hörens und Zuhörens auch das soziale Klima im Unterricht verbessern lässt. Beteiligte Schulen wie die Grundschule am Gärtnerplatz beschränkten das Thema nicht auf ein Unterrichtsfach. Schule zu sein, in der die Fähigkeit, einander zuzuhören, besonders gefördert wird wurde zum Leitbild der ganzen Schule.

In Zusammenarbeit mit Erzählern, Musikern, Komponisten und anderen Künstlern wurden Unterrichtsprojekte zu den Schwerpunkten Sprache und Sprechen, Musik, Kunst, Theater, Radio und Raumgestaltung angeboten. Die Schulen gingen kreativitätsfördernde Wege wie in einer Kooperation mit der Villa Stuck oder mit den Musikern von Musik zum Anfassen – Musik erleben, auf Musik neugierig machen, Musik selbst erfinden und vor anderen aufführen. Mit Profis vom Bayerischen Rundfunk wurden Radioprojekte durchgeführt und eigene Projekte entwickelt. Es kam zu ersten Formen von Pausenradio, bei dem verschiedene Klassen kurze Beiträge vorbereiteten. Gesendet wurden sie einmal pro Woche vor oder in der Pause über die Sprechanlage der Schule. Mit Unterstützung der Stiftung Zuhören wurden Hörclubs eingerichtet, in denen Kinder freiwillig und außerhalb des Unterrichts Hörspiele und Hörgeschichten anhören oder selbst kleine Hörstücke herstellen können.

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Auf der Suche nach dem guten Ton – April 2001

Wie beeinflussen akustische Faktoren den Menschen? Wie kann der Raum gestaltet werden, dass er gutes Zuhören ermöglicht und eine Atmosphäre schafft, die das soziale Klima verbessert? Lärmbelastung wirkt nicht nur auf mentale Leistungen der Kinder, auf Sprachverarbeitungsprozesse, Kurzzeitgedächtnis, Aufmerksamkeit und Konzentration, sondern auch auf die psychische Verfassung der Lehrkräfte. Lärm fördert Aggression. Welche Techniken stehen heute zur akustischen Raumgestaltung zur Verfügung? Diese Fragen waren Gegenstand der Tagung und eines gleichnamigen Buches, das ich mit Joachim Kahlert und Maria Klatte herausgegeben habe: Akustische Schulgestaltung – auf der Suche nach dem guten Ton.

Zur Sensibilisierung für die Klangumwelt wurde von Schülerinnen und Schülern der beteiligten Klassen Vorschläge erarbeitet: Wie beruhigen wir unser Klassenzimmer? hieß eines der Projekte. Mit Psychoakustikern vom Oldenburger Institut für Mensch-Umwelt-Beziehungen untersuchten wir Wirkungen von Soundfield-Systemen und von installierten Lärmschutzdecken auf die Geräuschwahrnehmung und Lebensqualität von Schülern und Schülerinnen. Die Projektlehrerinnen versuchten ein akustisches und aggressionshemmendes Klima in der Klasse/Schule zu entwickeln und zu gestalten.

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Werkstattorientierte Fortbildung – interdisziplinäre Tagungen mit Breitenwirkung

Die werkstattorientieren Fortbildungen während GanzOhrSein brachte durch professionelle Anleitung, zum Beispiel durch eine Stimmtrainerin des Bayerischen Rundfunks oder durch Theater- und Radioprofis, und durch Freiräume für experimentelles Erproben großen Nutzen für die Beteiligten. Das Zusammenspiel von Vermittlung, Eigenaktivität und Austausch mit außerschulischen ExpertInnen und KünstlerInnen, ermöglichte den Lehrerinnen passende eigene Wege zu finden.

Die Tagungen im Literaturhaus waren als Fortbildungsveranstaltung anerkannt und offen für alle Lehrkräfte und Interessierte. Sie fanden über München hinaus Nachahmung. Auch mit der Tagung Die Kunst des Zuhörens lernen und lehren erreichten wir ein breites Publikum. Es sprachen unter anderem der Sprachwissenschaftler Hartwig Eckart über die Wirkung der Stimme, der Pädagoge und Geschichtenerzähler Claus Claussen (1936–2023) über den vielfältigen Nutzen des Erzählens. Beide waren fortan sehr wichtige Impulsgeber auf Tagungen, in der werkstattorientierten Fortbildung und durch ihre Publikationen.

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Musik und Klang machen Schule – Juni 2002

Wie sich musikalische Aktivität auf neuronale Prozesse auswirken, war auf der Tagung ebenso Thema wie ermutigende Ansätze über die Kooperation zwischen MusikerInnen und Schulen. Vom Nutzen des erweiterten Musikunterrichtes, ein Schweizer Ansatz für den Mathematikunterricht, sprach Markus Cslovjecsek: Klingend Rechnen und Sprechen lernen – Die Werkzeug-Qualitäten von Musik im Mathematik- und Sprachunterricht.

Brauchen wir einen Kultur-Service? war die Frage an die Podiumsrunde, mit der wir die Institutionalisierung der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Akteuren verschiedenen Kunstsparten anstoßen wollten. In Bayern sollte möglich werden, was wir bei GanzOhrSein praktizierten. Die Podiumsdiskussion reihte sich ein in das langjährige Bemühen von Engagierten aus der Kinder- und Jugendarbeit wie dem großen Netzwerker Wolfgang Zacharias (1941–2018). Ich hatte das Thema in Kunst & Kultur, eine Zeitung meiner Gewerkschaft, anlässlich des 25jährigen Bestehens des Österreichischen Kulturservices ÖKS aufgegriffen mit der provokanten Überschrift Künstler, stürmt in die Schulen!

Der ÖKS wurde nach einer Studie mit enttäuschendem Ergebnis vom kulturellen Verhalten der Österreicher in den 1970er Jahren gegründet. Er sollte die Teilnahme der Menschen am kulturellen Leben fördern. Eine zentrale Aufgabe war, persönliche Begegnungen mit KünstlerInnen quer durch alle Sparten mit jungen Menschen zu organisieren. Der ÖKS war Mittler zwischen 6300 Schulen, 800 KünstlerInnen und über 100 Kultureinrichtungen wie Theater, Museen und Orchestern.

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Erzählen und interkulturelles Lernen – November 2002

Um die Herstellung von Gemeinsamkeit durch Erzählen und Zuhören, um die Rolle des interkulturellen Dialoges für die Fremd- und Selbstwahrnehmung, um die Kunst des Erzählens ging es auf der Tagung Erzählen und interkulturelles Lernen, die während der Internationalen Erzähltage – Zuhören zwischen den Kulturen stattfand. Nach den Erzähltagen entstand im Gespräch mit Udo Dirnaichner im Kultusministerium die Idee zu Handlungsmodell Erzählen und Zuhören. Mit Unterstützung vom Bayerischen Kulturfonds setzten wir das Projekt an 10 Schulen in Bayern im Laufe von zwei Jahren um.

Was bleibt von GanzOhrSein?

Manches wirkt, ohne dass es fassbar wäre, wie die Berichte und Sendungen in Printmedien und Rundfunkanstalten. Lange nach Projektabschluss erreichten mich noch Anfragen. Wir haben mit 33 Bildungs- und Kultureinrichtungen kooperiert, mit einigen führte die Stiftung Zuhören weitere Projekte fort. Als großen Erfolg werte ich, dass das Zuhören als Lernziel im bayerischen Grundschullehrplan verankert wurde. Anregungen für den Unterricht finden sich in zwei Filmen. Bleibend sind auch Publikationen, Unterrichtsanregungen, Zeitschriften- und Buchbeiträge. Eine Auswahl der Veröffentlichungen zum Hören und Zuhören, an denen ich beteiligt war, siehe: Publikationen.

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Ein wichtiges Buch

Umfassende Einblicke in das Phänomen Zuhören gibt das Buch Förderung des Zuhörens in der Schule von meiner viel zu früh verstorbenen Freundin Mechthild Hagen. Sie beschreibt Antworten und Ergebnisse aus dem Projekt GanzOhrSein und zeigt, wie sich Wahrnehmung erweitert und Zuhörbedingungen bei SchülerInnen und Lehrkräften über die Aktivitäten im Projekt verbessert haben. Nicht nur die Voraussetzungen für individuelles Lernen wurden besser, auch die Bedingungen des sozialen Hörraums Unterricht. Deutlich werden die hohe Akzeptanz des Vorgehens und die Erfolge bei der Institutionalisierung wie die Verbreitung und Vernetzung über die Fachöffentlichkeit hinaus. Mechthild ist es gelungen einen theoretischen Bezugsrahmen herzustellen, was angesichts der vielen Wissenschaftsdisziplinen mit ihrem je eigenen Blickwinkel auf das Hören und Zuhören, ein großer Beitrag zur Zuhörforschung ist.

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Stiftung Zuhören – Gründung 2002

Parallel zu den Modellvorhaben GanzOhrSein und Erzählen und Zuhören an Schulen unterstützte ich als Fachbeirätin von 2002 an bis zu meinem künstlerischen Aufenthalt in Worms 2010 die Stiftung Zuhören. Die Vorstandsvorsitzende Marion Glück-Levi vom Bayerischen Rundfunk und ich entwickelten mit unterschiedlichen Partnern – weiterhin auch mit dem GanzOhrSein-Team – neue Projekte zur Zuhörförderung.

JA! Begegnung zwischen Jung und Alt – ab 2004

Beim Schreiben des Antrags JA! Begegnung zwischen Jung und Alt durch Vorlesen – Zuhören – Erzählen (Träger: Stiftung Zuhören, Bayerischen Rundfunk, Hanns Seidel Stiftung) führten Erfahrungen aus den Erzähltagen die Feder und Berichte von Initiativen, in denen sich Alt und Jung durch Vorlesen und Erzählen begegnen.

Ich wusste von den Aktivitäten des Vereins Lesewelt München (ab 2007 Lesefüchse), den meine Freundin Helga Wolf 2003 so erfolgreich gründete: Etwa 300 ehrenamtliche VorleserInnen gehen heute wöchentlich in Stadtbibliotheken oder an andere Orte und vermitteln rund 1000 Kindern Spaß an Sprache und Literatur. Sie fördern die Lese- und Sprachfähigkeit besonders von Kindrn, die in einem sozial benachteiligten Umfeld aufwachsen.

Auch für Kindergärten, für kranke Kinder in Kliniken, in Mehrgenerationenhäusern gibt es Initiativen, in denen sich Jung und Alt über Erzählen und Vorlesen begegnen. Wie eindrücklich wirkt es, wenn Zeitzeugen die Schule besuchen, wenn sie erzählen was sie erlebten und zum Geschichtsbewusstsein junger Menschen beitragen oder wenn Senioren als Mentoren junge Berufseinsteiger unterstützen.

Erfahrungswissen weiterzugeben, ist Anliegen mancher Initiativen. So interviewten in einem Projekt des Bayerische Rundfunks Auszubildende erfahrene Handwerksmeister. Umgekehrt berieten SchülerInnen die Kommune im Rahmen des Schulwettbewerbs zur Stadtentwicklung mitdenken – mitreden – mitplanen mit großem Nutzen für die Gemeinden.

Wir sammelten beste Beispiele für den generationsübergreifenden Dialog. Um den Gedankenaustausch, Nachahmung und Vernetzung anzuregen, fanden Tagungen statt und abschließend erschien das Buch: Jung und Alt. Miteinander leben – voneinander lernen – einander zuhören (Hg. Thomas Gruber/Hans Zehetmair). Teil I: 20 Beispiele für den gelingenden Dialog zwischen Jung und Alt: Aus der Praxis für die Praxis – zusammengetragen. Teil II: 9 Beiträge zur Frage Gibt es ein Generationenproblem? Gedanken – Hintergründe – Fakten.

Wirtschaftsfaktor Zuhören – 2003 bis 2005

Zum Werkstattgespräch Wirtschaftsfaktor Zuhören?! 2003, das Gerd Kegel in der Schweisfurth-Stiftung moderierte, kamen TeilnehmerInnen aus verschiedenen Bereichen: IG Metall, BMW, Siemens, Unternehmensberatung, Ministerium für Unterricht und Kultus, Wissenschaftsministerium, IHK, Handelskammer, Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung, Volkshochschule, Landeszentrale für neue Medien und Journalisten aus Print- und Rundfunkmedien und WissenschaftlerInnen.

Vier Fragen bestimmten den Ablauf: Welche Ursachen und Auswirkungen haben Kommunikationsprobleme in Unternehmen: Auswirkungen auf Produktionsprozesse, Informationsfluss, Effizienz und Betriebsklima? Wo besteht Handlungsbedarf? Wie lässt sich Zuhören als Grundlage der Kommunikationskompetenz nachhaltig verbessern? Wo lassen sich Förderansätze entwickeln und praktisch in unterschiedlichen Bereichen wie weiterführende Schulen, Berufsausbildung, Weiterbildung, Nachqualifizierung erproben?

Nach der Dokumentation des Werkstattgespräches (graues Material) und einer dreiteiligen Sendereihe des Bayerischen Rundfunks zum Thema Wirtschaftsfaktor Zuhören, startete ein Modellprojekt für die Bayerische Erwachsenenbildung (2004–2005) mit diesen praktischen und erprobten Ergebnissen: Methodisch-didaktisches Lern- und Lehrmaterial zur Förderung der Zuhörfähigkeit. Träger: Stiftung Zuhören, DGB-Bildungswerk, das Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft und der Bayerische Volkshochschulverband.

Gesundheitsfaktor Zuhören – ab 2004

Es war ein kritischer Beitrag von Hermann S. Füeßl (1949–2022) in der Fachzeitschrift Fortschritte der Medizin unter dem Titel Lassen Sie Ihren Patienten aussprechen, der mich bewog, den Autor anzurufen. Er war leitender Mediziner am Klinikum München Ost und geschäftsführender Schriftleiter dieser Fachzeitschrift. Wiederholt hatte er dort das Arzt-Patienten-Gespräch thematisiert.

Bei unserer Begegnung 2004 waren wir uns schnell einig über die Bedeutung des Zuhörens und darüber, dass unter den Klagen über die moderne Medizin, die mangelnde Kommunikation zwischen Arzt und Patient ganz weit oben steht. In Gesprächen mit Akteuren aus dem Gesundheitswesen fanden wir Verbündete und das Projekt Gesundheitsfaktor Zuhören begann.

Wir initiierten eine Pilotstudie (MMWFortschritte der Medizin & Stiftung Zuhören), um herauszufinden, welche Bedeutung praktizierende Ärzte dem Gespräch mit dem Patienten beimessen, wie sie selbst ihr Zuhörverhalten und ihre kommunikativen Kompetenzen einschätzen und welche Probleme sie bei der Kommunikation mit den Patienten sehen. 171 Ärzte und Ärztinnen beteiligten sich.

Die Auswertung der Ergebnisse durch Christiane Hemmer-Schanze war eine der Grundlagen für das Werkstattgespräch Gesundheitsfaktor Zuhören im Oktober 2005, zu dem die Bayerische Landesärztekammer, MMW-Fortschritte der Medizin, Stiftung Zuhören, Bayerischer Rundfunk, Urban & Vogel und die Robert Bosch Stiftung einluden. 29 Experten aus der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung, der ärztlichen Selbstverwaltung, der Praxis, der Gesundheitspolitik, der Kassen und der Medien nahmen teil und widmeten sich Ursachen und Auswirkungen von Kommunikationsproblemen im Arzt-Patienten-Verhältnis sowie möglichen Ansätzen zur Verbesserung.

Kleine Auswahl Presseberichte

Auf dem 1. Kongress PatientenKommunikation im Januar 2006 wurde unser Anliegen aufgegriffen. Hermann S. Füeßl und ich wurden eingeladen, in Berlin eine Projektwerktstatt durchzuführen zum Thema: Gesundheitsfaktor Zuhören – Die Bedeutung von Patientenkommunikation im Arbeitsalltag sowie in der ärztlichen Aus-, Fort- und Weitberbildung.

Keinen Erfolg hatten unsere Bemühungen um Finanzierung für ein größeres Vorhaben zur Entwicklung von Lernangeboten: professionelles Zuhören für die ärztliche Aus-, Weiter- und Fortbildung (Fortbildungs-Bausteine, Printmedium, Internetplattform, computergestütztes Lernprogramm, audiovisuelle Lernmaterialien und andere). Auch Module zum Gesprächstraining für PatientInnen waren zur Optimierung des Behandlungserfolges und der Patientenzufriedenheit vorgesehen (Print, DVD, Radio- und Fernsehakademie, Checkliste, Multiplikatorenschulungen). Öffentlichkeitswirksame Sensibilisierung und Schaffung von Problembewusstsein sollten die Vorhaben ergänzen.

Zuhören zahlt sich aus! – Interdisziplinäre Fachtagung Januar 2010

Best-practice-Beispiele und Ergebnisse des Werkstattgesprächs wurden aufgenommen in das Programm der interdisziplinäre Fortbildungstagung Zuhören zahlt sich aus! – Probleme und Lösungsansätze in der Arzt-Patienten-Kommunikation in der Bayerischen Landesärztekammer, mitfinanziert von der Landeszentrale für Gesundheit in Bayern und der Siemens Betriebskrankenkasse. Die Tagung richtete sich an Ärztinnen und Ärzte, an Hochschulen, Gesundheitspolitik, Krankenkassen und FachjournalistInnen. Zentrale Themen: Zuhörens und Gesprächsführung als medizinische Kernkompetenz, das Vergütungssystem und der Handlungsbedarf in der Aus- und Weiterbildung. Medizinische Fachzeitschriften und mehrere Funk-, Print- und Onlinemedien, griffen die Inhalte in ihrer Berichterstattung auf.