Gedichte und Prosa

Auswahl

In memoriam Franz Kafka

Hallo Franz,
noch immer fehlt das Buch,
das Axt sein soll für das gefrorene
Meer in uns. Noch immer lesen sie das
Buch der Bücher. Pole tauen, Herzen frieren Stein,
Gehirne schlagen Feinde, die haben keine Säbel mehr.

Himmel Franz, von oben kommt der Tod geflogen.
Kann Schreiben tauen? Gebote sind geschrieben,
künden für die Liebe, gegen Morden.
Was fehlt noch immer, Franz?
Die Axt? Woraus?

2020

Frank Kafka „… ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ An Oskar Pollak, 27. Januar 1904. In: Briefe 1902–1924, Hrsg. Max Brod, S. Fischer, Frankfurt/Main 1966

Helft mir

Bei den Toten
meines Lebens
suche ich Antworten
in ihren Leben
will ich Ruhe finden
vor dem Kreisen
meiner Zweifel
will ich die Zeit erinnern
vor dem Denken
ich will ihre Stille spüren

Tau auf der Stirn
am Morgen.

1998

Atemleise
Für Christine Lavant

Können Tränen atemleise sein?
manchmal hab ich solche
jetzt zum Beispiel
und im Hals den stummen Schrei
dieses Unberührte
das nach Berührung …
Wie helfen all die fernen Lieben
wenn ein Leben auszuhalten ist
für jemand, mich
die es sehnt und unerträglich
trägt und doch.

Frag mich nicht
wie es mir geht
dann geht’s schon wieder
aber jetzt.
Und morgen wird es warm sein
und ich werde sprechen
aber jetzt.
und niemand atemleise.
Morgen …

2007

Ich verdanke das Wort ‚Atemleise‘ Christine Lavant (1915–1973). „Mir ist es oft, als ob die Erde sich jetzt atemleise meinem Blick entzöge“, beginnt eines ihrer Gedichte. Atemleise – in diesem Wort floss manches für mich zusammen: Einsamkeit, Sterben und zugleich Leben, etwas Achtsames, Innehalten, Zuhören. Atemleise – Wer ruhig ist und schweigt, der kann sein Atmen hören, den eigenen Atem. Stille braucht es, um dem Atem des anderen zu lauschen, die Bewegung zu spüren. Ungesagtes kann im Atem hörbar werden.

Späte Huldigung
Für Heinz Brandt (1909–1986)

Im nebligen Dämmertraum
habe ich die besten Augenblicke
an die Frühzeit verloren
nicht nach dem Mond gegriffen
dem Dunkel die Stirn nicht gezeigt
in Sumpfgedanken bin ich geschwommen
ertrunken im Meer – ohne Ufer

erst dein Blick auf mich
hat das Nebelherz geweckt
und mich der Sonne zugewandt
dem Traum
der nicht entführbar ist.

1998

Umweltleere

In Räumen
wo die Liebe
nur versteckte Ritzen findet
und das Lächeln
im taubenblauen Nadelstreifen friert,
wo Lettern auf nie geschaute Welten
ihre Schleier legen
und weiße Kittel Mauern ziehen –
in diesen Stuben
verstummt der Tanz, die Lieder
und die Geschichten fallen
in schwarze Löcher,
ungehört.

1998

Angeregt durch das Buch Nie geschaute Welten von Jakob Johann von Uexküll (1864–1944), Pionier einer Umweltlehre.

Stuhlbetrachtung

Eines Morgens stand er – mittendrin. Ob vergessen, ob absichtlich ist unbedeutend angesichts der Streitfragen, die er entfachte. Man sprach über den Regenwald, über die Notwendigkeit auf tropische Hölzer zu verzichten und ebenso für den hiesigen Wald seien die Gefahren erheblich. Nach der allgemeinen folgte die nähere Betrachtung.

Eine lag unter dem Stuhl und bedauerte die fehlende Lehne. Aber gerade die gefiel den meisten wegen ihrer geschwungenen Form. Umstritten blieb die Anzahl der Beine, da den Anwesenden von ihren Sitzen aus immer nur eine Teilansicht möglich war. Der Vorschlag, die Plätze zu wechseln, fand bei den meisten keinen Zuspruch. Heftige Worte verursachte die Farbbestimmung. Im Raum herrschten unterschiedliche Lichtverhältnisse und es gab Kurz- und Weitsichtige, Brillen- und Linsenträger. Einige trotzten ihren Sehschwächen ohne äußere Hilfe. Der Wortwechsel scheiterte an der Begrifflichkeit. Braun ist nicht braun. Natürlich gibt es zwischen einer Kastanie und einem Hasenfell einen Unterschied. Ungeklärt blieb auch die Standortfrage. Die Welleneigenschaft aller Materie ließe keine eindeutigen Schlüsse zu, warf einer ein. Aber was man sieht, sieht man, eine andere, und schließlich müsse man sich doch an irgendetwas halten können.

Die Blinde hatte den Stuhl lange gestreichelt. Leise begann sie zu sprechen. Sie erläuterte die äußere Struktur und sprach über die Art des Holzes, erzählte etwas über die Lackierung, behauptete er habe vier Beine und eine Lehne und sei unter dem Sitz, wo ein Kaugummi klebe, nicht gestrichen. Sie führte die Gleichmäßigkeit der Schrauben wie deren Versenkung auf maschinelle Fertigung zurück, und dabei entfernte sie den Splitter mit dem Seidenstrumpfrest. Bei den Ausführungen der Blinden herrschte absolute Stille im Raum.

1980er Jahre

Verweigerung

Ich richte nicht
und räche nicht
ich beuge mich den Richtern nicht
und stelle mich den Rächern nicht.

Ich höre und gehorche nicht
ich sehe und versteck mich nicht
ich zweifle aber stehe nicht
ich irre aber gehe.

1998