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    À Louis. Pas de fin en vue. Kein Ende in Sicht, 100 x 150 cm, 2021
    À Louis. Pas de fin en vue. Kein Ende in Sicht, 100 x 150 cm, 2021
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    Stop. Merci Louis Soutter, 100 x 150 cm, 2002/2021
    Stop. Merci Louis Soutter, 100 x 150 cm, 2002/2021

Hommage Louis Soutter

Meine Hommage für Louis Soutter soll seine ungebrochen aktuellen Fingerzeichnungen in den Blick rücken. In beiden NachDenkbildern überlagern Schattengestalten aus drei Fingerzeichnungen Weltereignisse nach seinem Tod 1942. Ich setzte sie in Bezug zu historischen und aktuellen Fotografien, zu Schlagzeilen, Fakten über Konflikte, Kriege, Flucht und Katastrophen, also zu jenen Ereignissen, von denen seine Fingerzeichnungen künden. Das Gedicht Für Louis Soutter ist Teil der Hommage.

Das Buch Die Tagesordnung von Éric Vuillard erinnerte mich 2018 an meine aufwühlende erste Begegnung mit den Fingerzeichnungen Louis Soutters 18 Jahre zuvor. Sie wirkten wie Schreie, Weltenschreie auf mich, erschütternd die Gestalten und Gesten, Spiegel innerer und äußerer Nöte, unüberhörbar die Abgründe einer Seele und die Hölle, in der sie brennt. Soutter gibt Schmerz und Leiden(schaft) eine Stimme, berührt Menschheitsfragen, zeitlos und heutig zugleich. Im BuchVuillards geht es um Machenschaften und Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten. Der Autor beschreibt die Fingerzeichnungen, die Louis Soutter im Jura-Dorf Ballaigues wie besessen schuf, als Omen für den kommenden Krieg und seine Schrecken.

Louis Soutter nahm Erschütterungen wie ein Seismograph vor ihrem Eintreffen wahr, wovon auch die Titelgebungen des Pazifisten und Antifaschisten zeugen: Katastrophe, Vor dem Massaker, Die Sonne verdunkelt sich am 1. September 1939, Vampir, das ist der Krieg, Die Hölle, das ist der Lärm, Potentaten der Verkrüppelung, Todeskampf. Auf die Rückseite von Une descente de Croix schreibt er L’an 33 une boucherie, L’an 1939 la boucherie. Die Sonne hat sich verdunkelt im Zweiten Weltkrieg: 60 Millionen Ermordete, unzählige Kriegsverletzte, Traumatisierte, nicht zu vergessen die Leiden der überlebenden Frauen und Kinder in bombardierten Städten, die Last jener, die ihr Leben lang an psychischen Folgen des Krieges, an unsichtbaren Wunden litten und zu verdrängen suchten, was nicht zu verdrängen ist.

Der Schweizer Violinist und Maler Louis Soutter (1871–1942) wurde mit 52 Jahren von seiner großbürgerlich-protestantischen Familie entmündigt und abgeschoben in das Altersasyl von Ballaigues. Sein Alltag dort war von autoritärer Fürsorge und strengen christlichen Regeln beherrscht. Für seine Bilder fehlte jedes Verständnis, manchmal wurden sie zum Anheizen benutzt. Soutter klagt in Briefen über zwanghaft religiöse Sichtweisen, die ständigen Bibelgespräche sind ihm zuwider, obwohl er interessiert ist an Religion. Er begann intensiv zu zeichnen, entfloh der geistigen Engnis durch lange Märsche zu Freunden, den wenigen, die ihn unterstützten.

1937 begann seine extremste Schaffensphase, er bricht mit konventioneller Maltechnik. Da er an Sehkraft verlor und wegen Arthrose den Pinsel nicht mehr halten konnte, benutzte er die Finger als Werkzeug. Bis zu seinem Tod 1942 schuf er 400 Fingerdrucke. Anerkennung fand er kaum. Nur einige Künstler schätzten sein Werk, mit wenigen hält er Verbindung, darunter ist sein Cousin Le Corbusier, der die Fingerzeichnungen ablehnt, das Bedeutsame daran nicht erkennt. Louis Soutter stirbt 1942 vereinsamt und arm.

Erst 19 Jahre nach seinem Tod weckte sein Werk das Interesse der Kunstwelt – und das von Psychiatern. Mich stören pathologisierende Deutungen, sie verengen den Blick. Hermann Hesse schreibt 1961 in einem Gedicht über Louis Soutter: Nicht korrekt, nicht schön, sondern richtig. Mal ich mit Tinte und Blut, male wahr. Wahrheit ist schrecklich. Es war das Jahr einer ersten Retrospektive in Lausanne. In der Schweiz zählt Louis Soutter zu den großen Malern des 20. Jahrhunderts, in Deutschland kennen nicht viele sein Werk.

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Louis Souter, Portrait von 1936

Louis Soutter 1937
Foto Theo Frey

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Berührpunkte

Meine Wiederentdeckung Soutters fiel in die Zeit, in der ich mich mit der Sklaverei und ihren Folgen bis heute befasste. Was mich dabei bewegte, beunruhigte und entsetzte, fand ich vielschichtig ausgedrückt in den Gestalten Soutters. Die Sprache seiner Zeichnungen zu verstehen ist anders als Humboldts Texte und Michael Zeuskes Geschichte globaler Sklaverei zu lesen oder die Autobiografie des freigekauften Sklaven Olaudah Equiano, anders als dem Film Kongo Tribunal von Milo Rau zu folgen – dieses Verstehen scheint wie ein wortlos-stilles Begreifen.

Viele unter den Fingerzeichnungen Soutters berührten mein Thema. Bei seiner Zeichnung Von den Heiligen verstümmelt dachte ich an die Sklaven im Kongo, denen bei vollem Bewusstsein die Hände abgehackt wurden. Was bewegte Louis Soutter zum Bild Christliches Gräuel? Bestialität, religiöser Fanatismus, alte und neue Kreuzzügler, Missbrauch kirchlicher Macht, die innere Pein einverleibter Tabus? Neben menschenverachtenden Rassentheorien halfen die christliche Missionierung im blutigen Geschäft der Kolonisatoren: Päpstliche Bullen lieferten die moralische Rechtfertigung und den Segen für die Versklavung der Heiden, für den Raub der Länder der Ungläubigen. Vergebung der Gräuel war den Tätern durch Ablass sicher.

In Soutters Fingerzeichnungen tauchen Folterpfahle auf, Blut, Kreuze, Heiligenscheine, Christusmotive – Zeugnisse eines Un-Bewussten, eines Leidenden, der Schrecken ahnt, fühlt und gelernt hat, einwärts zu schauen, wie Le Corbusier es einmal formulierte. Soutter schreibt 1932 nach einem Besuch bei dessen Mutter:

Ich werde die ganze Nacht fest arbeiten, denn ich muss dahin gelangen, von niemandem mehr abhängig zu sein, vor allem nicht von der Kirche, die mich erniedrigt hat.

Auf seinen Spuren – Versuche

Es zog mich ins Waadtland nach Ballaigues, wo es Louis Soutter umtrieb. 2020 führte mich Hans Christoph von Tavel auf die Spuren des Malers. Im historischen Bau des damaligen Altersasyls ist heute ein Altenheim beheimatet. Der Name Louis Soutter war den Angestellten unbekannt. Das Postamt, in dem er das Tintenfass benutzte, wenn ihm Geld für Tusche fehlte, ist stillgelegt. Nur eine Gedenkplatte an der Friedhofsmauer erinnert an ihn. Einen Eintrag auf der Gemeinde-Webseite gibt es seit 2021 dank der Hilfe des Schriftstellers Michel Layaz. Er erzählt in seinem Roman Louis Soutter, probablement (deutscher Titel: Louis Soutter, sehr wahrscheinlich) einfühlsam vom Leben des Malers, von familiären Hintergründen, Abgründen.

Berührt von seinem Lebensdrama und überzeugt von der Aktualität der Fingerzeichnungen, schlug ich der Gemeinde Ballaigues und nacheinander mehreren Kunsthäusern eine Würdigung Louis Soutters zum 150. Geburtsjahr 2021 und zum 80. Todesjahr 2022 vor. Aus unterschiedlichen Gründen wurde mein Vorschlag nicht aufgegriffen. Die einzige Würdigung in Deutschland war 2021 Un Présage mit Fingerzeichnungen Louis Soutters in der Galerie Karsten Greve in Köln.

Für Louis Soutter

Manchmal scheint es, als
ob die Schatten ein Licht werfen …

Was wäre, wenn die Schreie
deiner Schatten gehört würden,
aus deinen Kreuzen Bäume wüchsen
und die Vampire Wasser tränken,
roten Wein. Kein Blut.
Pas de guerre
No war
was wäre,

wenn DEIN stop
DER Stopp wäre
und erd-und-himmelwärts
die Wendung käme
was wäre,
wenn.

Ludowika.
2010/2021

Meine Hommage – zwei Bilder – ein Gedicht

Nach wiederholtem Scheitern meines Vorschlages dachte ich, wenn Originale ungesehen in Depots lagern, sollten zum 80. Todestag Louis Soutters vergrößerte Gestalten aus den Fingerzeichnungen Neugier wecken auf sein noch immer aktuelles Werk. In meinen beiden NachDenkbildern stehen Schattengestalten aus drei seiner Fingerdrucke in Bezug zu Ereignissen nach seinem Tod. Ausgewählt habe ich dafür historische und aktuelle Fotografien, Schlagzeilen und Fakten über Konflikte und Kriege, Flucht und Katastrophen, Ereignisse also, von denen die Ahnungen des Louis Soutter künden. Mein Gedicht Für Louis Soutter bezieht sich auf seine Fingerzeichnung Stop und ist Bestandteil der Hommage.

Seine Fingerzeichnungen sollten gesehen werden

Nach 1945 haben Kriege nie aufgehört, sie sind traurige Wirklichkeit. Was würden Soutters geschundene Finger heute drucken? Was in einer Welt, in der nicht nur Populisten hetzen und Feindbilder schaffen, in der Aufrüstung, ferngesteuertes Töten, Kriege und Flucht Wirklichkeit sind. Wären seine Schatten heute aus dem Pilz über Hiroshima geboren, wo der eingebrannte Schatten eines verdampften Körpers an das Menschheitsverbrechen erinnert? Würde Louis Soutter den „Atomaren Schutzschirm“ als Todesboten entzaubern, als Boten vom Untergang Heller als tausend Sonnen (Robert Jungk). Soutter ahnte die Beben, die zerstörerische Wirklichkeit wurden. Wieder bebt die Erde, wieder künden Wellen von noch stärkerem Beben. Seine Finger brachten Schatten hervor, Fliehende, Kämpfende, gedruckt mit Haut und Hand, mit dem entfesselten Körper, die originalen Fingerzeichnungen sollten gesehen werden …

Umsetzung der beiden NachDenkbilder

Das Bild À Louis. Pas de fin en vue. Kein Ende in Sicht (100 x 150 cm) basiert auf bekannten Fotografien von Krieg–Zerstörung–Flucht, die überlagert sind mit zwei vergrößerten Ausschnitten aus Fingerzeichnungen Louis Soutters: De la planete à l’etoile (Vom Planeten zum Stern, 1938, Sammlung Scharf-Gerstenberg) und La POTeau Final – At the limit + unêtre (Der letzte Pfosten – an der Grenze des Totenreichs 44 x 58 cm, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne). Der Leinwanddruck ist mit relevanten Jahreszahlen zu den abgebildeten Ereignissen und mit Namen von Schauplätzen übermalt (Acryl, Tusche, Blut, Knochenpulver, Rost).

Im Bild Stop. Merci Louis Soutter (100 x 150 cm) wurde eine Aufnahme von 365 Titelüberschriften der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2002 (aufgeklebt auf Abbildungen von Fresco-Köpfen aus Frescobildnisse der Frührenaissance von Giorgio Vasari, 72 x 107 cm) fototechnisch überlagert mit einem Abbild der Fingerzeichnung Stop (44×58,1 cm, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne). Der Leinwanddruck ist beklebt und weiterbearbeitet mit Überschriften aus den Jahren 2020 und 2021 (Coupage-Kleber, Acryl, Tusche, Knochenpulver, Rost).