„Fresko“
Dunkle Gesichter aus dem Buch Freskobildnisse der Frührenaissance von Hans Misar wurden zu Malgründen der „Fresko“-Übermalungen. Die Abbildungen stammen aus Fresken, die um 1450 bis 1550 entstanden, einer Zeit großer gesellschaftlicher Umwälzungen, die auf das Bewusstsein und Denken der Menschen wirkten. Fragen zu eben diesen Veränderungen, Begriffe wie Individuum, Gesellschaft und Perspektive begleiteten den „Dialog“ mit den 500 Jahre alten Köpfen.
Beim flüchtigen Blick in die Bücherkiste eines Antiquariats blitzte 2007 das Buch Freskobildnisse der Frührenaissance (Hans Misar, 1941) vor meinen Augen auf, als wäre meine spekulative Theorie der Gravitation der Bedeutung im Spiel. Neben 48 Schwarz-Weiß-Abbildungen von Gesichtern aus bekannten Fresken enthält es Texte von Giorgio Vasari (1511–1574), Biograf, Architekt, Hofmaler der Medici, über den Werdegang von Künstlern der Frührenaissance wie Giotto, Masaccio, Andrea Mantegna, Filippo Lippi, Benozzo, Sandro Botticelli, Domenico Ghirlandajo – alle nicht nur begnadete Maler, sondern ebenso Bildhauer, Baumeister oder Kupferstecher. Die Fresken, aus denen die Ausschnitte stammen, entstanden in Rom und Florenz um 1450 bis 1550, eine Epoche, die Jacob Burckhardt 1860 als eine Zeit des Strukturwandels von Staat und Kirche bezeichnete und sich der moderne individuelle Mensch herausbildete.
Höhlenatelier Oia – „Fresko“-№ 1 Vorbereitung / „Fresko“-№ 1 / Ausschnitte
Die abgebildeten Gesichter zeigen Individuelles so treffend, wie das allgemein Menschliche, das uns Verbindende. Mit diesen Antlitzen wollte ich 2007 den Interferenz-Zyklus abschließen, stattdessen regten sie eine weitere Vertiefung zu Fragen des Menschseins an. Ich musste mich überwinden, Seiten für den Bildgrund aus dem Buch von Hans Misar zu trennen.
In der „Fresko“-Übermalung № 1 (106 x 135 cm) sind die dunklen 500 Jahre alten Köpfe in unzähligen Schichten miteinander verbunden. Im fieberhaften Dialog mit den Gesichtern entstanden paarige Vereinigungen, Antlitze verschwanden, neue Gesichter wuchsen hervor, fragile Gestalten zeigten sich, das Bild begann zu atmen. Eintauchen in Geschichten, Schicht um Schicht hießt es, auf Eingriffe, Variationen in den Gesichtern reagieren immer wieder neu, gleichzeitig war Raum zu lassen, zu schaffen, dazwischen Zurücktreten, Innehalten und wieder neu. Obsessives Malen ohne Zeitgefühl.
Pointilistische Version
Bildgrund der pointilistischen „Fresko“-Übermalung № 4 (108 x 135 cm) sind erneut 15 Seiten aus Misars Buch. Ich ordnete den jeweiligen Gesichtern eine der Grundfarben zu; im Zentrum stand der Einzelne, der Zwischenraum, die Verbindung. Tragen alle Menschen weniger oder mehr alle Farben in sich? Durch die weiße Teilgrundierung entstanden maskenhafte, isolierte Antlitze. Wie kommt Leben in die Masken? Wie entsteht Geist in den Gestalten? Was geschieht (farblich) beim Austausch? Nach diesem pointilistischen Weg erlebte ich Interessantes: Am Abend brachten das Weiß, die Grundfarben, die 40° heiße Oia-Luft und die Feuchtigkeit im Höhlenatelier das Punktemeer im wahrsten Sinne zum Tanzen, zum Vibrieren. Eine verrückte optische Täuschung: das Schwingen der Farbflächen schien sich vor dem Bild abzuspielen, als träten Flächen als ein Korpuskelfeld aus dem Bild heraus.
„Fresko“-№ 4 – fertiges Bild im Atelier Oia und Ausschnitte
Vorbereitung „Fresko“-№ 7
Überschreibung
Malbasis von „Fresko“ № 7 (107 x 130 cm) ist identisch mit № 1. Im Laufe des Übermalens wurde daraus ein Schriftbild, ein Palimpsest mit mehrfachen Farb- und Schriftschichten. Die Schichten sind vor Auftrag der jeweils nächsten Schicht nicht abgeschabt oder abgewaschen, wie üblich bei antiken oder mittelalterlichen mehrfach benutzten Pergamentmanuskripten, auf die der Name Palimpsest zurückgeht.
Die Texte der Schriftschichten sind aus Notizheften, aus der deutschen und portugiesischen Fassung meines Nachwortes und aus Passagen von Werner Heisenbergs Vorlesung Einführung in die Theorie der Elementarteilchen, die er im Sommersemester 1961 an der Universität München hielt.
Gesellschaftliche Verhältnisse als die Fresken entstanden – einige Aspekte zur Frührenaissance
Wie waren die Verhältnisse in der Zeit als die Fresken entstanden? Im 15./16. Jahrhundert gibt es eine Bewegung gebildeter Fürsten, Wissenschaftler und Handwerker, die Künstler werden. Maler beobachten messerscharf, analysieren, und sie fertigen detailgenaue Studien an, sezieren Leichen, begründen die Anatomie. Die neuentdeckte Zentralperspektive revolutioniert die Malerei, bildende Kunst wird plastischer, dreidimensionaler, Skulpturen stehen befreit vom Bauwerk im Raum. Goldprunk weicht und Landschaften werden fotografisch genau abgebildet.
In dieser Zeit rückt der Mensch in den Mittelpunkt von Kunst, Kultur, Wissenschaft. Hinterfragt werden Herrschaft und Religion. Glaube und Hoffnung auf das Jenseits sind präsent, sie ersetzen aber nicht die Beschäftigung mit der Gegenwart und irdischen Phänomenen. Die Kirche ist nicht mehr alleiniger Auftraggeber der Künstler. Ein neues Menschenbild auf der Basis antiker Quellen ist im Werden: Humanismus ersetzt blinde Übernahme althergebrachter Weltbilder durch kritische Verstandesprüfung.
Diese Bedingungen wirken auf das Selbstverständnis des Menschen, der nicht nur glauben, sondern Dingen auf den Grund gehen will; der sich die Natur zu eigen macht, und sie nach seinen Wünschen gestaltet. Die bürgerliche Gesellschaft braucht Persönlichkeiten, die sich als starkes Ich erleben. Die Umwälzungen wirken auf das Bewusstsein und Denken, das autonome Individuum ist im Entstehen.
Alte Fragen: Individuum und Perspektive
Die „Fresko“-Übermalungen brachten mich zurück zu alten Themen: Individuum und Gesellschaft, Masse und Mensch: Was sind wir, wer bin ich? Wie wurden wir, was wir sind? Was macht unsere Lage aus? Gespräche über Individuum und Perspektive mit der Psychoanalytikerin Irene Leschinsky-Mehrl regten mich an, verschiedene Sichtweisen zur Entstehung des Individuums zu betrachten.
Nach Erich Fromm (1900–1980) erstrecken sich die Veränderungen des Bewusstseins über Jahrhunderte. Er beschreibt Geschichte als Prozess der Individuation, als Herauslösen des Menschen aus dem Einssein mit der ihn umgebenden Natur. Nachdem in der Menschheitsgeschichte lange vages, unbestimmtes Selbstbewusstsein existierte, führt die zunehmende Stärkung der Persönlichkeit zu einem Individuum, das eigene Fähigkeiten und Anlagen entfaltet und sich schrittweise seiner Einmaligkeit bewusstwird.
Für Norbert Elias (1897–1990), den mir mein Freund Eckehard Glaser (1929–1999) näherbrachte, sind Individuum und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden. Individualität sei gesellschaftlich geprägt, der Mensch sowohl Münze als auch Prägestock. In seiner Zivilisationstheorie vom Wandel der Persönlichkeitsstrukturen in Westeuropa von 800 bis 1900 wendet er sich gegen die Sicht auf den Menschen als freies, autonomes von der Gesellschaft isoliertes Wesen. Als Verhältnis von Teil und Ganzem sieht Elias Individuum und Gesellschaft und zitiert eine Metapher Aristoteles: Das Haus ist mehr als die Summe seiner Steine und kann nicht durch Betrachtung einzelner Steine erklärt werden.
Einen Grund für Verschiebungen in der Ich-Wir-Balance vom Wir zum Ich sieht er in der Herausbildung von kleinen zu großen Überlebenseinheiten wie Staat und Nation. Norbert Elias hält eine Ich-Identität ohne Wir-Identität nicht für möglich. Ich sehe hier eine Gemeinsamkeit zum Denken von Jean Gebser (1905 -1971), der sich unter anderem mit der Entstehung des Individuums und der Veränderung von Bewusstseinsstrukturen in der Menschheitsgeschichte beschäftigte. Gebser untersuchte dazu alte Relikte (Bilder, Statuen, Schriftstücke), Worte und ihre Wurzeln und kam unter anderem zum Schluss, dass die vorherrschende Überbetonung von Ratio und Ich durch ein anderes Miteinander und bewusste Teilhabe des Einzelnen am Weltganzen, durch eine neue Weltsicht ersetzt werden muss.
Vom Ich zum Wir – ein anderes Miteinander
Gibt es einen Weg vom Ich zum Wir-Bewusstsein, wenn weltweit Konkurrenz die Wirtschaftsweise beherrscht und Menschen zu Konkurrenten, zu Rivalen werden, die es zu besiegen gilt: besser, schneller, mehr? Wenn Denken in nationalen Grenzen friedliche Formen menschlichen Zusammenlebens behindern? Welche gesellschaftlichen Bedingungen müssen verändert werden für ein neues Miteinander?
Welche Wege führen weg von der Überbetonung des Ich zum Wir hin? Antworten kreisen ebenso um das Gesellschaftliche und Politische wie um das Verhalten des Einzelnen. Welche Muster wirken auf uns, in uns, zwischen uns? Vom Ich zum Wir – wie steht es um Mitgefühl, Achtsamkeit, Anerkennung, wie um die Wahrnehmung? Robert Jungk beklagte den Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit als schlimme Krankheit des Menschen. Wie ist ein Zuwachs an Wahrnehmungsfähigkeit und Bewusstsein zu erreichen?